The blog

'Verknüpfungen, Verkettungen und Verknotungen'

28 November 2014
filed under:

A review written by Robin Celikates and published in the Neue Zürcher Zeitung (11/26/2014):

Irgendwann hatte Bruno Latour genug davon, die ihm zugeschriebene Rolle des relativistischen Objektivitäts- und Wahrheitsleugners zu spielen. Vielleicht hat dem Pariser Soziologen, Anthropologen, Wissenschafts- und Technikforscher, Philosophen und Ausstellungsmacher tatsächlich der Klimawandel den Anstoss gegeben, sich der Verteidigung der Realität zu widmen. Dass damit kein Zurück zum Wissenschafts- und Vernunftglauben der Moderne verbunden sein konnte, stand nach seinen bisherigen Arbeiten – man denke nur an «Wir sind nie modern gewesen» von 1991 – allerdings fest. «Existenzweisen», Latours neueste und bisher umfangreichste Studie, wird im Untertitel als «Anthropologie der Modernen» angekündigt. Sie lässt sich wohl am ehesten als ontologischer Pluralismus charakterisieren; das klingt abstrakt – und ist es auch: Wir leben nicht in einer homogenen Welt, sondern in einem Multiversum, und dieses wird nicht nur von einem Typ von Wesen besiedelt, sondern von unendlich vielen verschiedenen Typen.

Ein Experiment

Angesichts der drohenden ökologischen Katastrophe, die Latour nicht ohne Grund als im Wortsinn ultimative Kritik der Moderne charakterisiert, müssten wir unsere grundlegendsten Selbstverständnisse infrage stellen, die zugleich Selbstmissverständnisse seien. Diese rührten daher, dass wir die Pluralität der Existenzweisen – Latour zählt fünfzehn Modi, zu denen auch alte Bekannte wie Recht, Politik, Religion, Wissenschaft und Technik gehören – und deren jeweilige Eigenlogik geleugnet hätten. Die diesen Modi entsprechenden Erfahrungen hätten im metaphysisch verarmten Vokabular der Moderne nicht oder nur verzerrt formuliert werden können. Latour lanciert daher eine diplomatische Offensive, die auf Respekt vor der Vielfalt der Existenzarten zielt und uns auf die unvermeidliche Umstellung von Modernisierung auf Ökologisierung vorbereiten will. Diese Umstellung erfordere die Austreibung von Grosskategorien wie «Gesellschaft», «Natur» und «Subjekt» sowie ihrer Gegenstücke: «Individuum», «Kultur», «Objekt», aus unserem Weltverständnis. So soll Platz geschaffen werden für all jene Entitäten, zumal Mischwesen, denen zu Unrecht abgesprochen wurde, einen ontologischen Status zu besitzen.

Inspiriert von philosophischen Klassikern, die vom Mainstream verschmäht werden, wie William James und Alfred North Whitehead, kartografiert Latour auf beinahe siebenhundert Seiten auf anregende, teilweise aber etwas verquaste Weise dieses neue Terrain. Sein Buch ist auch als Experiment interessant. Präsentiert wird es als Zwischenbericht einer unabgeschlossenen, kooperativen Untersuchung, der nicht isoliert gelesen, sondern nur zusammen mit der begleitenden Website – www.modesofexistence.org – rezipiert werden sollte. Seit dem Erscheinen des französischen Originals vor zwei Jahren sind denn auch zahlreiche Korrekturen und Ergänzungen vom Projektleiter selbst und von seinen zahlreichen Lesern zusammengetragen worden, die zu Ko-Forschern befördert wurden.

Der systematische Ertrag mag nicht immer einleuchten, und manch eine Frage hätte vielleicht auch vor der Publikation geklärt werden können. Insgesamt exemplifiziert dieses Zusammenspiel von «Print» und «Digital» jedoch durchaus, wie Wissenschaft offen, interaktiv und «fallibilistisch» sein kann, wie experimentelles Philosophieren mit der Schwarmintelligenz des Internets möglich ist, ohne auf Mob-Niveau abzusinken. Und nicht zuletzt entspricht diese Form der Untersuchung auch ihrem Gegenstand – Latours Realität besteht aus Verknüpfungen, Verkettungen und Verknotungen, Flows und Streams, und diese lassen sich nun einmal schwer zwischen zwei Buchdeckel und in Tabellen packen.

Es spannt sich ein Netz mannigfaltiger Assoziationen, wo andere Soziologen nur homogenisierend «die Gesellschaft» sehen. Latours konstante Polemik richtet sich denn auch gegen das Projekt einer kritischen Soziologie, das unter der Oberfläche eine «tiefere» Realität verdeckter Kräfte am Werk sieht. Diese antikritische Pose hindert Latour freilich nicht daran, selbst noch die grössten Gegner – nicht zuletzt «die Moderne» – einer furchtlosen Kritik zu unterziehen. Auch weil der Autor dabei weitgehend auf genauere Begründungen verzichtet, schlägt diese Kritik manchmal reaktionäre, esoterische und quasi theologische Töne an, etwa in der Anrufung Gaias und dem Appell, doch endlich das seit 1968 obligate Misstrauen gegenüber den Institutionen zu überwinden.

Ob Latour der «Hegel unserer Zeit» («Le Monde») ist oder ein Wiedergänger Noahs, der in seiner digitalen Arche möglichst viele Wesen und Welten unterbringen möchte, um der kommenden Sintflut zu trotzen (ebenfalls «Le Monde»), muss offenbleiben. Seine Wende zur Metaphysik hat jedenfalls auch ihren Preis. Die Berufung auf die unmittelbare und persönliche Erfahrung – etwa die des Ergriffenwerdens – wirft die Frage auf, um wessen Erlebnisse es eigentlich geht; und dass der antikritische Empirismus ohne jede Empirie auszukommen scheint, entfernt Latours Projekt von einer Soziologie, die auch etwas über soziale Ungleichheiten und die Entwicklungslogik von Strukturen zu sagen hat. Diese verschwinden in einer Welt, die zu einem in seiner Komplexität schwindelerregenden Netzwerk wird.

Ein neues Erdzeitalter

Schwindel kann freilich auch produktiv sein. Nach der Buch- und Online-Version wird das Projekt mit einer Ausstellung im Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe in die nächste – ästhetische – Phase gehen. Latours Mangel an Disziplin und seine Aversion gegen jegliche Orthodoxie kommen seinem therapeutischen Projekt durchaus zugute: Seine alternative Erzählung will es uns ermöglichen, uns anders zu verstehen. In dieser Erzählung dreht sich alles um Gaia, eine Erde, die uns enge Grenzen auferlegt, weil wir ihr zu lange das Projekt der Modernisierung aufgebürdet haben. In Form ergreifender Naturerfahrungen, vermeintlich archaischer Weisen des Wissens von der Natur und in der Wahrnehmung von Werten, die unsere Autonomie transzendieren, müssen wir demnach lernen, wieder auf die vielschichtige Mutter Erde zu hören. Im neuen Erdzeitalter, im «Anthropozän», haben wir, Bruno Latour gemäss, auch gar keine andere Wahl. – Ob es ihm gelungen ist, das geeignete Vokabular für die gesuchte Alternative zu formulieren, ist dann vielleicht gar nicht so wichtig.

External Resource:
http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/verknuepfungen-verkettungen-und-verknotungen-1.18431999

comments powered by Disqus